PIZZADIENST 130 Beiträge
06.11.2012
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Was deine Katze wirklich denkt von Robert Gernhardt
LESEPROBE Lektion 2
DIE KATZE NÄHERT SICH
mit erhobenem Schwanz dem Tisch, an dem das Herrchen ein Schinken- brötchen verzehrt.
SIE MEINT: Was machst du da eigentlich, Chef? Nein, sag nichts - laß mich raten: Du ... du ... du ... Wie nennt man das noch mal, wenn die Hand stetig zum Mund geführt wird? Trinken? Nein, das machst du erst abends, jetzt um die Mittagszeit ist das, was du da tust, nicht trinken, sondern, sondern ... Großstadt im Ruhrgebiet mit vier Buchstaben - wie bitte?
Fünf? »Essen« hat fünf Buchstaben? Na ja, für euch Menschen mit euren fünf Fingern, inklusive gegengreifendem Daumen, ist es natürlich ein leichtes, bis fünf zu zählen. Wir dagegen, wir Daumenlosen, die weder imstande sind, einen Kühlschrank zu öffnen noch eine Dose ... Aber ich will nicht klagen, ich will dich etwas fragen: Du ißt also? Herrscht darüber Einigkeit? Gut, dann will ich gleich die Zusatzfrage anhängen: Wieso nur du? Wieso nicht auch ich?
Ach so, weil ich bereits vor, laß mich nachrechnen, eins, zwei, drei, vier, fünf, also fünf Stunden etwas gegessen habe, soll ich jetzt zu-
sehen, wie du - was? Es waren nur vier Stunden? Hm ... Karges Frühstück um neun ... Jetzt ist es eins ... Chef, du hast schon wieder recht! Während ein Daumenloser wie ich - aber da wir gerade bei Benachteiligungen und Behinderungen sind: Hast du, Chef, eigentlich niemals das Gefühl einer gewissen Verpflichtung, dich der Benachteiligten und Behinderten anzunehmen? Besonders in Momenten, in welchen du in ein Schinkenbrötchen der Extraklasse beißt, indes einer der Benachteiligten und Behinderten vor dir sitzt?
Nein? Da regt sich nichts bei dir, kein Gefühl der Verantwortlichkeit, kein noch so leises Stimmchen der Solidarität? Nein? Tja, Chef, dann muß ich wohl andere Saiten aufziehen. Also:
Als unser aller Schöpfer, der liebevolle Gottkater, seine Geschöpfe in solche mit und solche ohne gegengreifenden Daumen einteilte, da bestimmte er zugleich in den Speisungsvorschriften des Vierten der Fünf Bücher Mauses, daß der Daumeneigner dem Daumenlosen zu helfen habe, andernfalls der Herr sich ergrimmen würde - da ist von Tötung der Nachgeburt die Rede, von einer Schreuheckenplage und davon,
daß Gottkater einen Riesenlärm veranstalten, doch niemand ihn hören werde. Aber reden wir nicht von Strafen, reden wir lieber davon, wie man sie vermeidet. Da nun sind die Speisungsvorschriften ebenso präzise wie entgegenkommend, da lesen wir beispielsweise im Buch Vier, Kapitel Drei, Vers Zwei bis Eins: So ein Daumeneigner ein Schinkenbrötchen isset und sich ein Daumenloser einstellt, ihm beim Mahle Gesellschaft zu leisten, so soll dem Daumeneigner nur der Schinken zustehen, welcher vom Brötchen bedecket wird. Den Schinken aber, welcher nicht vom Brötchen bedecket wird, sondern aus ihm herausraget, soll er nicht essen, sondern, so ein Daumenloser vor ihm sitzet, ihn fragen, ob der gewillt sei, den nicht bedeckten Schinken, welcher ihm zustehet - aber Chef, genug der heiligen Worte! Wir reden hier über Religion, derweil das Brötchen in deiner Hand immer kleiner und deine Schuld mir gegenüber immer größer wird. Laß mich deine klare Frage daher mit einer ebenso klaren Antwort belohnen: Ja! Ich will den mir zustehenden Schinken. Reiß ihn ab, Chef, wirf ihn her, damit es dir wohlergehe und du lange Dosen öffnen kannst auf Erden!
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