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02.12.2004
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Da steht er, der alte Kirschbaum in Lillis Garten. Dunkel, fast schwarz recken sich seine kahlen Äste in den Himmel. Den letzten Schnee, der noch in den Astgabeln lag, hat der Sturm weggeweht. Der alte Baum sieht aus, als wäre kein Leben mehr in ihm. Hatte er wirklich im Sommer grüne Blätter, weiße Blüten und rote Früchte getragen? Lilli stand am Fenster und betrachtete ihren alten Freund. Der Kirschbaum war ihr Freund - o ja, sie mochte ihn so gerne!. An einem seiner starken Äste hatte der Vater eine Schaukel befestigt, mit der konnte man fast bis in den Himmel fliegen. An heißen Tagen war es gut im Schatten der breiten Krone im Gras zu liegen. Das war wie ein Sommerhaus für Lilli, ihre Freundinnen und Puppen. Auch Bello hatte dort seinen Lieblingsplatz. Aber jetzt schien alles erstorben und tot. Lilli seufzte. Ob der alte Baum im Frühling wieder aufwachen würde - mit Blättern, Blüten und Früchten? Mit neuem Leben? Und dann erst bemerkte sie es: Es gab noch ein Leben draußen in ihrem Baum. Er beherbergte einige muntere Gäste, er war ihr Rastplatz, ihr Heim, ihr Schutz. Lilli kannte ja den rotbraunen Eichkater, der in einer Baumhöhle wohnte. Er holte sich immer Nüsse von ihrem Fensterbrett. Hansi Federbusch hatte sie ihn genannt - wenn das Wetter nicht gar zu schlecht war, sprang er von Ast zu Ast und schien sehr beschäftigt. Ein warmes, trockenes Plätzchen im Stamm gab es auch für Familie Siebenschläfer, die sich nur im Sommer sehen und hören ließ. Den langen kalten Winter verschliefen alle in ihrer Baumwohnung. Dann gab es hier noch eine ganze Spatzensippschaft, die sich immer laut und ungeniert benahm, und in den höheren Aststockwerken ließen sich Herr und Frau Ringeltaube - Wittchen und Wettchen nannte sie Lilli - nieder. Die beiden benahmen sich aber gar nicht friedlich, sie stritten oft miteinander. Ganz unten, bei den Wurzeln, hauste Mausimaus, eine Feldmaus, die Lilli schon oft gesehen hatte. Frau Annabella Amsel, die am liebsten auf der höchsten Baumspitze saß und dort ihre Morgen- und Abend- lieder sang, ließ sich allerdings jetzt nur selten blicken und zum Singen war ihr gar nicht zumute. Nun immerhin, dachte Lilli, ihr alter Baum war bewohnt und das war ein Trost. Eines Tages war sie shr erschrocken, als sie hörte, wie der Großvater zur Mutter sagte: "Der alte Kirschbaum muss gefällt werden, vielleicht sollten wir an seiner Stelle ein Rosenbeet anlegen?" Lilli hatte nichts gegen Rosenbeete, aber sie hatte etwas dagegen, dass ihr alter Freund umgeschnitten werden sollte. Das Unheil musste abgewendet werden! Aber wie? Lange dachte Lilli angestrengt über dieses Problem nach. Am nächsten Tag malte sie mit farbigen Buchstaben ein großes Plakat. Da stand drauf:
Bitte um Hilfe! Wir werden obdachlos, wenn unser Baum gefällt wird! Unterschrieben von: Hansi Federbusch, Familie Siebenschläfer, Zwitscherlinge, Familie Ringeltaube, Mausimaus u. Kinder, Annabella Amsel !
Dieses Plakat befestigte sie am Stamm des alten Kirschbaumes, bevor sie in die Schule ging. Ob es etwas helfen würde? Als sie mittags nach Hause kam, war das Plakat immer noch dort, aber es stand etwas mit Bleistift Geschriebenes darunter:
"Baum bleibt stehen. Kann Verantwortung für so viel Unglück nicht übernehmen!"
Und die Unterschrift des Großvaters. Lilli war so glücklich, dass sie ins Haus sprang und alle umarmte, besonders den Großvater. Die Mutter aber wies lächelnd auf ein paar dunkle Zweige, die in einer Vase am Fenster standen. "Was soll den das?", wunderte sich Lilli. "Das sind Zweige von deinem Kirschbaum, die habe ich heute abgeschnitten.Ungefähr in zwei Wochen, zum Weihnachtsfest, werden sie weiß aufblühen - so wie im Frühling der ganze Baum. Ist das nicht wunderbar?" Lilli nickte: "Dann weiß ich ja, dass mein Baum nicht tot ist, dass er nur einen Winterschlaf hält wie die Siebenschläfer, nicht war?" "Nur nicht so lange, du wirst sehen, wie er sich mit seinen Blütenknospen im Frühling beeilen wird!", lachte die Mutter.
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